Vom Wert des Vertrauens
Programmatische Überlegungen von Diakoniepastorin Maren von der Heyde
Als Moses den Auszug seines Volkes aus Ägypten organisierte, traf er jede Entscheidung selbst. „Du machst dich selber und die Leute müde“ sagte sein Schwiegervater: „Suche Leute aus, die Verantwortung übernehmen, erkläre ihnen Gottes Ordnungen und Weisungen und mache sie zu Schiedsrichtern für 1000, 100, 50 oder 10 Menschen. Nur das wichtigste bringst du selbst vor Gott.“
Mich berührt an diesem frühen Beispiel der Verantwortungsteilung, dass sie nicht nur von Mensch zu Mensch geschieht. Sie findet im Dreieck statt. Sie baut darauf, dass die Ordnungen und Satzungen dafür gegeben sind. Sie macht alle gleich, denn alle Handelnden müssen sich vor Gott verantworten. Das hat Konsequenzen und damit sind wir beim Thema.
Das zwischen Kirche und Staat am heißesten diskutierte Thema ist das Kirchenasyl. Soll die Kirche das Asylrecht dem Staat überlassen? Oder müssen Christen dafür einzustehen, dass Menschen ein Recht auf ihr Recht haben? Dürfen oder müssen wir sie gar vor dem Staat schützen?
Diese Entscheidung ist für mich nicht nur eine Frage des Glaubens. Es geht um das Selbstverständnis der Kirche und ihrer Diakonie in einem demokratischen Gemeinwesen.
Demokratie – ein Rollenspiel
Uns verbindet der Wunsch, die Welt besser zu machen. Davon gehen wir in der Regel auch im gesellschaftlichen Leben miteinander aus. Zugleich wissen wir um die unterschiedlichen Rollen und Aufgaben von Staat, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Parteien und Initiativen in unserer Gesellschaft. Diese Vielfalt ist ein wichtiger Baustein unserer Demokratie.
Damit sie funktioniert, muss es ein gemeinsames Regelwerk für das Zusammenwirken geben. Ein grundlegendes gegenseitiges Vertrauen. Anders gesagt: Treu und Glauben.
Als Theologin halte ich beide Begriffe für zentral, wenn wir wollen, dass die Welt für alle besser wird. Treu und Glauben sind zwei Nuancen von Vertrauen. Sie bedeuten, dass dem anderen bei aller Verschiedenheit Gutes unterstellt und nicht Böses nachgesagt wird. Treu und Glauben sind die Basis für den Erhalt von Gerechtigkeit und Frieden. Sie gehören in der Sprache der Bibel zu einem Wortstamm.
Treu und Glauben sind die Basis für Subsidiarität – das Grundverständnis unseres Sozialstaates: Alles, was lokal geregelt werden kann, soll lokal verantwortet werden.
Das hat in Deutschland auf allen Ebenen zu einer Vielfalt von Kräften geführt, die in Europa kaum so wiederzufinden ist. In kaum einem anderen Land werden auf diese Weise so viele Ehrenamtliche gewonnen, auf Jahre hin motiviert, fortgebildet und gehalten wie durch diese basisnahe Arbeit.
Die Diakonie steht am Anfang dieser Tradition. Der erste Verband, der auf der Basis der Subsidiarität gesellschaftlich gestaltende Kraft gewann, war der von J. H. Wichern geführte Centralausschuss, der Vorläufer des Bundesverbandes der Diakonie!
Als Diakonie haben wir also schon aus historischen Gründen ein großes Interesse am Erhalt der Subsidiarität. Sie ist heute nicht weniger aktuell als vor bald 170 Jahren. Sie beruht auf Vertrauen und Freiheit.
Es ist schon ein paar Jahre her, aber ich erinnere den Moment sehr gut: Ich war in meiner früheren Aufgabe als Asienreferentin mit einer Delegation von chinesischen Religionsbeamten unterwegs in Deutschland. Die Delegation bestand aus kommunistischen Kadern, hoch gebildet und sprachlich sehr gewandt. Wir waren zu Besuch bei dem evangelischen Entwicklungsdienst, damals noch in Bonn. Das Gespräch war anregend. Die Delegation hatte viele Fragen. Wir standen danach an der Straßenbahnhaltestelle, weil wir zum Bahnhof mussten, um unseren ICE zu bekommen, als der Leiter der Delegation tief beeindruckt fragte, wie ein solches Vertrauen zwischen Staat und Kirche möglich sei. In China sei es undenkbar, dass eine den Kirchen nahe Körperschaft so viel Geld erhält, so frei handelt, so kritisch und zugleich solidarisch sein könne.
Die Frage hat mich stolz gemacht und zugleich lange beschäftigt. Ich habe mich gefragt, ob wir uns des Vertrauens, das wir genießen, wirklich bewusst sind? Wissen wir zu schätzen, in welcher Demokratie wir leben?
Genau um dieses Vertrauen geht es auch im Streit um das Kirchenasyl. In China wäre es undenkbar, dass die Kirchen jemanden vor staatliche Gewalt schützen, so nötig es sicherlich oft wäre. Täten sie es, würde die Kirche geschlossen und möglicherweise auch zerstört, der Kirchengemeinderat und der Pastor würden verhaftet. Trotzdem gelingen auch in China unglaublich viele gute gemeinsame Projekte. Auch dort wird versucht ein verlässliches Miteinander zu entwickeln. Die Besuche der Religionsbeamten hier in Deutschland waren und sind vielleicht ein Baustein dazu. Klar ist: Das Zusammenwirken gesellschaftlicher Kräfte braucht eine verlässliche Basis, damit es funktioniert.
Schauen wir aus einer anderen Perspektive auf das Kirchenasyl. Die Frage ob und wie viele Menschen auf der Flucht aufgenommen werden sollen, spaltet Europa.
Europas Ideale in Gefahr
Die Europäische Union steckt derzeit in einer Krise. Rette sich, wer kann, scheint das Prinzip zu sein. Besonders die neuen EU-Staaten im Osten setzen auf Autorität und Abschottung. Fast überall erstarken populistische und rechtsradikale Parteien – auch in Deutschland.
Wir Europäer sind versucht die Augen vor den Krisen zu verschließen, die zu einem großen Teil Folgen europäischer Politik sind. Weit in die Kolonialzeit zurückreichend und aktuell als Folge des Welthandels und unserer Gier nach billigen Rohstoffen. Die Grenzen im Mittleren Osten sind willkürlich gezogen worden. In Syrien herrscht seit mehr als sieben Jahren Krieg. In Afghanistan – einem Eldorado von wertvollen Bodenschätzen – und im Irak kehrt kein Friede ein. Im Jemen, herrscht, so wie in vielen Ländern Bürgerkrieg und unvorstellbare Not. In Afrika, aber auch in Europa treibt die fehlende Arbeit in die Flucht oder auf Wanderschaft.
Ich bin davon überzeugt, dass die Krise Europas nicht durch die Menschen ausgelöst wird, die hier her flüchten. Sie hat andere Ursachen. Vielleicht die wichtigste: Europa sind Treu und Glauben abhandenkommen. Ein wichtiger Aspekte unserer Arbeit ist daher auch, Vertrauen in Europa zu festigen und die Not für Europäer erfahrbar zu machen.
Seit langem ermöglichen wir über unseren Vormundschaftsverein afghanischen Kindern, die schwer herzkrank sind, eine Operation in Deutschland. Für die Kinder die letzte Rettung. Die Aktion ist mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein: Sie ist ein Signal: wir tragen Verantwortung für die notleidenden Menschen, wo immer sie leben. Wir nehmen nicht hin, dass Menschen sterben müssen, weil sie das Pech haben, am falschen Ort geboren zu sein.
Das „Rette sich, wer kann“ der Flüchtlinge ist aus der Not geboren. Das „Rette sich, wer kann“ der westlichen Gesellschaften dient der Sicherung unseres jetzigen Lebensstandards vor den Notleidenden, die an den Grenzen Europas stranden.
In dieser Situation braucht die Gesellschaft ein moralisches Rückgrat, eine grundlegende Orientierung auf Werte, Überzeugungen, Religionen. Darum meine These: Die Kirchen und die Diakonischen Werke, konkret unsere Arbeit hier mitten in der Gesellschaft, stärken die Demokratie. Sie setzen auf Treu und Glauben, auf das Vertrauen, dass Menschen in der Lage sind, jeweils das Ganze und ihr Anliegen im Blick zu behalten. Das braucht ein großes Herz, Mut und Kraft. Ich kann mir das nicht ohne Glauben, eine Gemeinschaft und den offenen Diskurs vorstellen.
Diakonie ist mehr als Sozialarbeit
Viele denken, die Diakonie mache nur die Sozialarbeit der Kirche. Dem möchte ich gerne widersprechen. Die Diakonie ist nicht nur ein Instrument der Kirchen, um damit der Gesellschaft zu dienen. In der biblischen Tradition gehört das soziale Tun im Gemeinwesen unmittelbar zur Botschaft.
Diakonie und Kirche sind ihrem Selbstverständnis nach Teil der Gesellschaft, Kooperationspartner für die staatlichen Stellen, Zuwendungsempfänger und Mitgestalter. Sie handeln auf Treu und Glauben im Rahmen unserer Verfassung. Unsere Geschichte lehrt uns, dass dazu auch gehört, dem Staat gegenüber ein kritisches Gegenüber zu bleiben. Selbstverständlich muss sie dabei Kritik einstecken und ihre eigene Arbeit kritisch betrachten.
Das gilt auch für die Flüchtlingsarbeit. Wer meint, die Kirche sollte kein Kirchenasyl gewähren, weil sie damit staatlichem Handeln vorgreift, muss wissen, dass ein hoher Prozentsatz der Fälle, die dem schnellen Handeln der Behörden entzogen werden und noch einmal in die rechtliche Prüfung gehen (und nichts anderes soll das Kirchenasyl bewirken) gerichtlich positiv entschieden werden. An diesem Punkt wird deutlich, wie Institutionen, indem sie ihre Rollen wahrnehmen, gemeinsam Gutes bewirken, nämlich: Menschen, die Schutz verdienen auch Schutz zu gewähren. Für mich ist das ein Beitrag zur Demokratie.
Diakonische Zukunftsfragen
Unsere Gesellschaft verändert sich. Wir spüren eine wachsende Angst und Sorge um das Eigene und als vermeintliche „Antwort“ Rassismus, Hass und Gewalt.
Die Gesellschaft wird bunter und vielfältiger, nicht nur wegen der Menschen, die aus der Not heraus zu uns kommen, sondern auch weil die gute Arbeit überall auf der Welt verteilt ist. Junge Menschen müssen sich noch viel stärker als wir damit anfreunden, dass ihr nächster Job nicht in der Nähe sein wird. Wir brauchen alle Menschen mit allen Fähigkeiten. Die Menschenrechtskonvention zur Inklusion fordert uns alle heraus.
Unsere Gesellschaft altert. Wenn die Menschen weiterhin länger leben, steigt die Altersarmut. Die Zahl der Menschen mit besonderem Assistenzbedarf wird steigen.
Die Kosten des Gesundheitswesens laufen davon. Pflege können sich in Zukunft auch bei uns nur noch wenige leisten. Darum müssen die Selbsthilfepotentiale wieder wachsen. Die Familien sind neu herausgefordertWie alle anderen stehen dann auch Diakonie und Kirche vor großen Herausforderungen.
Wir werden noch viel Phantasie entwickeln müssen, wie die Menschen in ihren Wohnungen alt werden können und wie Hilfsbedürftige selbstbewusste Akteure bleiben können.
In der Wohnungslosenarbeit erleben wir schon, dass Menschen neue Organisationen gründen. Sie treten manchmal den Professionellen gegenüber sehr aggressiv auf, weil sie der Überzeugung sind, die hätten es nicht gepackt: Das heißt, wir hätten es nicht gepackt, der Armut in unserer Gesellschaft gegenüber zu treten. Es ist nicht schön sich das sagen zu lassen und es ist unfair die Mitarbeitenden zu beschimpfen, die ihre Arbeit schon seit Jahren mit Überzeugung tun. Und dennoch müssen wir uns auch fragen lassen, ob und wie wir die Initiativen wertschätzen können und ihnen mitten und zwischen unseren eingespielten Rollen Raum geben.
Seit einigen Jahren ist wieder von der Gemeinwesenarbeit die Rede. Längst verlorene Nachbarschaften müssen wieder aktiviert werden. Wir haben im Diakonischen Werk daher in den vergangenen Jahren die Zahl der Stadtteildiakoninnen (bei uns sind es nur Frauen) ausgebaut. Sie bieten Anlaufstellen an, wo Menschen sich in allgemeinen Fragen beraten lassen können. Sie sorgen, eng mit der Kirchengemeinde verbunden dafür, dass sich wieder Nachbarschaften bilden, die füreinander einstehen und füreinander da sind. Auch da hat sich in Norderstedt eine parallele Organisation gebildet, für Außenstehende kaum zu unterscheiden. Wir haben uns zunächst geärgert, aber warum sollten nicht gute Ideen Schule machen? Das Besondere an dieser Arbeit ist die Bereitschaft, mit den vorhandenen Ressourcen „Wunder“ zu vollbringen. Den Menschen die gute Botschaft in Wort und mit der Tat dorthin zu bringen, wo sie leben. Das ist Diakonie.
Eingangs stellte ich fest: uns verbindet der Wunsch, die Welt besser zu machen. Auf dieser Basis reden wir und müssen uns zuweilen auch einmal streiten, im gegenseitigen Respekt und im Wissen darum, dass die Freiheit ein verletzliches Gut ist. Das ist unser Beitrag zum demokratischen Gemeinwesen.
Kurzfassung eines Vortrags vom 16. Februar 2018, Katharina-von-Bora-Haus in Pinneberg
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